Ein Klangbild der Vielfalt: Zürcher Musikszene im Wandel
Zürich – das Finanzzentrum der Schweiz, technologischer Knotenpunkt, Mekka für Start-ups. Doch wer genauer hinhört, entdeckt zwischen Seeufer, Kreis 4 und Industriehallen einen anderen Pulsschlag: Musik. Und nicht irgendeine. In keiner anderen Schweizer Stadt schlägt das musikalische Herz so vielfältig, so international und gleichzeitig so lokal verwurzelt wie hier. Kulturelle Vielfalt ist längst kein Schlagwort mehr, sondern prägt aktiv die Tonart der Stadt.
Ein Spiegel der Gesellschaft
Musik als Spiegel gesellschaftlicher Realität – in Zürich hat dieser Satz Gewicht. Von der Reitschule bis zur Tonhalle, von kleinen Off-Spaces bis zu grossen Festivals wie dem m4music, zeigt sich, wie vielschichtig und offen die hiesige Szene geworden ist. In der Musikszene begegnen sich Menschen unterschiedlichster Herkunft, Sprache und Generation – nicht selten auf Augenhöhe.
Das hat zum einen pragmatische Gründe: Rund ein Drittel der Einwohnerinnen und Einwohner Zürichs besitzt keine Schweizer Staatsbürgerschaft. Zum anderen ist es auch ein Resultat bewusster Vernetzungsarbeit und kultureller Offenheit. Orte wie das El Lokal, das Kunstraum Walcheturm oder das Gemeinschaftszentrum Loogarten sind längst Knotenpunkte für Musikerinnen und Musiker mit Migrationsgeschichte – sowie Sprungbrett für neue Klangexperimente.
Wo Welten aufeinandertreffen: Lokale Acts global gedacht
Ein Besuch im Club Zukunft etwa kann einem die Ohren öffnen – nicht nur wegen der exzellenten Soundanlage. Dort hat man ebenso die Chance, einen peruanischen DJ zu hören wie ein Set eines Zürcher Hip-Hop-Kollektivs mit Einflüssen aus Eritrea, Serbien und Winterthur. Ob Afrobeats, Anatolian Rock oder persischer Jazz – der Zürcher Underground ist alles andere als eindimensional.
Ein schönes Beispiel ist das Projekt La Nefera – die in Basel aufgewachsene Dominikanerin Jasmin Albash vereint lateinamerikanische Rhythmen mit Schweizer Rap-Ästhetik. Auch wenn sie heute oft international unterwegs ist, ist Zürich einer ihrer kreativen Heimathäfen geblieben. Zufall? Kaum.
Oder nehmen wir Zeal & Ardor, die mit ihrer Mischung aus Black Metal und Gospel weltweit Aufsehen erregt haben. Mastermind Manuel Gagneux, der Genfer mit afroamerikanischen Wurzeln, hat einen Grossteil seiner künstlerischen Entwicklung in der Zürcher DIY-Szene durchlaufen. Einmal mehr zeigt sich hier: Was auf Zürcher Bühnen passiert, ist oft einer globalen Bewegung näher als man denkt.
Kreis 4: Der Schmelztiegel der Klänge
Wer das musikalische Zürich verstehen will, sollte einen Spaziergang durch den Kreis 4 machen. Hier liegen Musikclubs, Tonstudios und Proberäume Tür an Tür. In einem Hinterhof trifft man auf eine brasilianische Forró-Combo beim Soundcheck, im nächsten Souterrain spielt eine türkisch-schweizerische Psychedelic-Rockband. Multikulturelle Koexistenz klingt hier nicht nur schön – sie wird gelebt.
Spätestens seit der Eröffnung der Musikschule Konservatorium Zürich West (mkz), die gezielt musikalische Bildungsangebote für Kinder mit Fluchthintergrund und Migrationsbiografien integriert, zeigt sich: Vielfalt beginnt nicht erst auf der Bühne, sondern schon im frühen Zugang zur Musik.
Kulturelle Nachhaltigkeit – mehr als nur ein Modetrend?
Das Thema Nachhaltigkeit wird häufig ökologisch verstanden – dabei ist kulturelle Nachhaltigkeit ein ebenso bedeutender Bestandteil des urbanen Lebens. Zürich beweist, dass Musik ein enorm potentes Mittel für Integration, Begegnung und langfristige Teilhabe sein kann.
Projekte wie Music for Refugees oder Open Mic Zurich legen Räume frei, die sonst im städtischen Alltag verschlossen bleiben. Sie bieten eine Plattform für Newcomer aus Syrien, Angola oder Sri Lanka – ob mit Oud, Mbira oder E‑Gitarre. Das Ziel? Austausch auf Augenhöhe, unabhängig von sozialem oder kulturellem Kapital. In einer Welt, in der Abgrenzung kulturelle Ressource geworden ist, wirkt dieser Ansatz beinahe revolutionär.
Festivals als Momentaufnahme der Vielfalt
Die kontinuierliche Öffnung zeigt sich auch an der Festivalfront. Das andermattLIVE! oder Openair Wipkingen setzen bewusst auf diverse Line-ups – nicht als Feigenblatt, sondern mit echter Neugier auf musikalische Grenzen.
Besondere Erwähnung verdient auch das Petzi-Netzwerk, das alternative Musikveranstaltungen schweizweit vernetzt und gezielt diversere Communities integriert. Viele Zürcher Veranstalter:innen sind Teil dieses Engagements – auch, weil klar ist: Dauerhafte Veränderung funktioniert nur gemeinsam.
Wer hört, gewinnt
Lässt sich musikalische Vielfalt wirklich aktiv gestalten? In Zürich lautet die Antwort: Ja – vorausgesetzt, man will zuhören. Denn wer anderen Klängen Raum gibt, ermöglicht nicht nur neue Töne, sondern auch neue Begegnungen. Die Musikszene Zürichs beweist, dass kulturelle Differenz kein Defizit, sondern ein Motor für Innovation, Identität und Co-Kreation sein kann.
Wie klingt die Zukunft der Stadt? Vielleicht so wie der Mix, den DJane Zeynep im Fachwerk auflegt – ein wilder Ritt durch kurdischen Pop, Trap und Technoklänge. Oder wie das gemeinsame Album eines Roma-Rappers aus Serbien mit einer Cellistin aus Seebach. Oder wie der digitale Chor, der sich aus Wohnzimmeraufnahmen quer über den Globus zusammensetzt – dirigiert vom Zürcher Start-up SonicVoyager.
Möglich ist das alles, weil die Stadt der kulturellen Diversität nicht nur Raum, sondern auch Gehör schenkt. Und vielleicht ist es genau dieser Respekt vor dem Anderen, der Zürich nicht nur musikalisch, sondern auch gesellschaftlich voranbringt.
Für alle, die mehr wollen: Orte zum Entdecken
Wer sich selbst ein Bild – oder besser: einen Klang – machen möchte, dem sei ein persönlicher Streifzug empfohlen. Hier ein paar Tipps für neugierige Ohren:
- El Lokal: Konzertbühne, Wohnzimmeratmosphäre – und Programmideen aus aller Welt.
- KOSMOS: Mischung aus Kulturzentrum, Buchhandlung und Venue – Programm von Jazz bis Electro-Poetry.
- Helsinki Klub: Kleine Bühne, grosses Profil – besonders für lokale Talente.
- Rote Fabrik: Politisch, integrativ, laut. Ein Klassiker am Seeufer mit stets überraschendem Booking.
- Dynamo: Urbaner Kreativ-Hub für junge Musiker:innen mit Werkstätten und Livebühne.
Zürich kann vieles – Banken, Blockchain, Business. Aber zwischen Vinylplatten und Verstärkern zeigt sich eine andere Qualität: die leise, aber nachhaltige Kraft kultureller Offenheit. Und wer weiss? Vielleicht wird gerade in einem Keller zwischen Altstetten und Oerlikon die nächste globale Musikrevolution geboren.