Die sanft geschwungenen Hügel, die schroffen Bergketten und die glasklaren Seen – das Berner Oberland zählt zweifelsohne zu den faszinierendsten Regionen der Schweiz. Doch nicht nur landschaftlich hat diese Gegend viel zu bieten. Was das Berner Oberland wirklich einzigartig macht, sind seine Menschen. Ihre Geschichten, geprägt von harter Arbeit, Naturverbundenheit und einem feinen Gespür für Tradition, erzählen mehr über unsere Zeit als so mancher Wirtschaftstrend.
Zwischen Gipfelsturm und Käseherstellung – Der Alltag, der keiner ist
Wer Andreas Gurtner auf seiner Alp oberhalb von Gstaad besucht, trifft einen Mann, der mehr mit der Landschaft spricht als mit dem Smartphone. Jeden Sommer zieht es ihn mit seiner kleinen Herde auf die Alp Geissegg. Dort lebt er während 100 Tagen – ohne Strom, ohne fliessendes Wasser, aber mit Blick auf den Wildstrubel.
„Der Käse sagt mir jeden Morgen, wie’s ihm geht“, sagt Andreas mit einem Schmunzeln. Achtsamkeit ist hier keine hippe Praxis, sondern gelebter Alltag. Die Pflege des Käses, das Melken, das Kochen auf dem Holzherd – all das folgt einem jahrhundertealten Rhythmus. „Schneller“ oder „effizienter“ machen hier keinen Sinn. Wert entsteht durch Zeit.
Andreas ist kein Einzelfall. Viele Älplerinnen und Älpler im Berner Oberland kombinieren enormes handwerkliches Können mit einem tiefen Respekt für die Natur. Ihre Lebensgeschichten entwickeln sich im Rhythmus der Jahreszeiten – und oft auch jenseits der digitalen Welt.
Wo Innovation auf Tradition trifft: Das Beispiel von Interlaken
Tradition und Innovation – ein scheinbares Gegensatzpaar? Nicht im Berner Oberland. In Interlaken etwa, wo sich Abenteuer-Tourismus und regionale Wertschöpfung die Hand reichen. Nadine Schmid, Gründerin eines nachhaltigen Outdoorunternehmens, hat ihren ganz eigenen Weg gefunden.
„Ich wollte etwas schaffen, das Menschen bewegt – im Herzen und im physischen Sinn“, erzählt sie. Mitten in der Corona-Zeit gründet sie ihr Unternehmen „UrbanAlps“, das Wander- und Kletterangebote mit Nachhaltigkeitsworkshops verbindet. Die Ausrüstung? Fair produziert. Das Essen? Lokal. Die Guides? Überwiegend aus der Region.
Nadine sieht ihre Aufgabe nicht nur im wirtschaftlichen Erfolg, sondern im Aufbau lokaler Netzwerke. Ihre Touren enden meist bei einem Glas Wein im Garten eines regionalen Winzers oder bei einer Käseverkostung auf der Alp. So entstehen Verbindungen – zwischen Stadtmenschen und Berner Oberländern, zwischen Besuchenden und Gastgeberinnen. Und ganz nebenbei entsteht auch ein neues Narrativ des Tourismus.
Wenn das Dorf zusammenhält: Gemeinschaft in Zeiten des Wandels
In Reichenbach im Kandertal lebt die 84-jährige Emmi Zbinden. Wer denkt, dass in diesem Alter der Alltag langsam und ruhig wird, irrt. Emmi ist aktives Mitglied des Dorfvereins, fährt täglich mit dem E-Bike zur Post und organisiert jedes Jahr das „Kandertalströchli“, ein Dorffest mit Livemusik, regionalen Spezialitäten und einem Markt aus selbstgemachten Produkten.
„Früher“, sagt sie, „waren die Feste kleiner, aber alle haben mitgeholfen. Heute braucht’s ein gutes Management.“ Ihre Augen funkeln. Zwischen Organisation und Übergabe der Aufgaben an Jüngere zeigt sich: Emmi ist nicht nur Hüterin der Traditionen, sondern auch Mentorin für eine neue Generation. Es sind genau solche Persönlichkeiten, die in kleinen Gemeinden eine grosse Wirkung haben.
Die Geschichten aus Reichenbach zeigen: Auch in Zeiten von Abwanderung und Onlinehandel bleibt das Dorf lebendig – solange die Menschen es mitgestalten.
Handwerk mit Herz: Die Rückkehr zur Regionalität
Neben Käse und Tourismus erlebt auch das Handwerk eine Renaissance. Simone Lüthi, gelernte Schreinerin aus Meiringen, hat sich auf das Bauen mit Altholz spezialisiert. Aus alten Scheunenbrettern entstehen Tische, Lampen und ganze Küchen. Ihr Stil? Rustikal, regional, kompromisslos authentisch.
„Ich glaube nicht an Wegwerfmentalität“, sagt sie. „Ein alter Balken trägt Geschichten in sich.“ Während sie durch ihre Werkstatt führt, spürt man: Hier geht es nicht um Massenfertigung, sondern um Individualität mit integrer Ästhetik.
Viele ihrer Kundinnen und Kunden stammen aus der ganzen Schweiz. Sie kommen, weil sie das Echte suchen – ein Stück Berner Oberland für Zuhause. Und sie finden weit mehr als Möbel. Sie finden ein Lebensgefühl.
Zwischen Natur und Zukunft: Junge Stimmen aus den Bergen
Was bewegt die junge Generation im Berner Oberland? Eine ganze Menge. Während viele in die Städte ziehen, entscheiden sich andere ganz bewusst für ein Leben in der Region. Wie etwa Nils Berger, Anfang 30, Softwareentwickler, der heute ein alpines Co-Working-Projekt in Adelboden leitet.
„Ich will nicht zwischen Karriere und Lebensqualität wählen müssen“, meint er. In seinem umgebauten Chalet arbeiten Kreative, Unternehmerinnen, Designer und Entwickler unter einem Dach – mit Blick auf die Lohnerkette. Sein Ziel: digitale Arbeit mit lokalen Strukturen verbinden.
Einmal im Monat organisiert Nils den „Alpenpitch“ – eine Veranstaltung für Start-ups mit Bezug zur Region. Alles findet draussen statt, auf einer Wiese, mit Picknickdecken statt Konferenzstühlen. Die Ideen, die dort entstehen, reichen von CO₂-neutralen Lieferdiensten über Apps für Alpweidenbewirtschaftung bis hin zu nachhaltiger Modeproduktion auf regionaler Ebene.
Was wir von den Lebensgeschichten lernen können
Die Porträts und Erzählungen aus dem Berner Oberland zeigen: Wirtschaft kann menschlich sein. Innovation muss nicht urban, hektisch oder technokratisch sein. Und Tradition bedeutet nicht Stillstand, sondern Identität und Haltung.
Vielleicht ist das Berner Oberland ein gutes Modell für eine Wirtschaft der Zukunft – eine, die ihre Wurzeln kennt, Beziehungen schätzt und Gestaltungsspielraum bietet. Zu oft richten wir den Blick auf Zahlen, Entwicklungen, Metropolen. Doch wer hinhört, entdeckt im ruhigen Rauschen eines Bergbachs oder im Klang einer Alphornprobe Hinweise darauf, wie eine entschleunigte, nachhaltige und zugleich lebendige Zukunft aussehen kann.
Das Berner Oberland erzählt Geschichten – von Menschen, die gestalten, bewahren, verbinden. Diese Geschichten verdienen es, gehört zu werden. Und vielleicht inspirieren sie dazu, auch im eigenen Umfeld neu hinzuschauen: Wo entsteht Wert? Wo entsteht Gemeinschaft? Und was müssen wir bewahren, um in die Zukunft zu gehen?